Warum das Hartz IV-Bildungspaket scheitern muss

Der Spiegel Online berichtet (http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,757284,00.html), dass das von Ministerin von der Leyen propagierte Hartz IV-Bildungspaket floppt, weil nur ein kleiner Teil der Berechtigten Anträge gestellt hat – und die angeblich auch noch oft von „bescheidener“ Qualität sind. Und am 30.April läuft die Antragsfrist für rückwirkende Zahlungen ab.

Da sind zum einen anhaltende Streitigkeiten von Politik und Ämtern, sowie verbleibende Unklarheiten. Zum anderen hatten Behörden keine Antragsformulare vorrätig, verweigerten aber, rechtswidrig, die Annahme formloser Anträge. Es gab offensichtliche Versuche, Antragsteller abzuwimmeln oder auszutricksen, indem man sie entweder zwischen verschiedenen Behörden hin- und herschickte, die Anträge nicht annahm oder später einfach behauptete, es seinen keine gültigen Anträge eingegangen.

Doch über all diese Dinge hinaus gibt es wesentliche Gründe, warum überhaupt so wenige Anträge abgegeben werden. Gegenüber dem Spiegel wurde die Problematik so angedeutet, dass „vor allem die Eltern Geld beantragten, die sich auch früher schon viel um ihre Kinder gekümmert hätten“, und dann: "Die wirklich Abgehängten erreichen wir immer noch nicht.". Denn so ein Antrag ist immer eine relativ komplexe Formalität. Man muss sich erst mal informieren, was es überhaupt im Einzelnen gibt, wie es beantragt wird und am Ende, was man alles beibringen muss, um überhaupt den Antrag bewilligt zu bekommen. Das lange Fehlen offizieller Anträge stellt somit schon mal eine Hemmschwelle dar, denn nicht jeder traut sich, so einen Antrag selbst zu formulieren, oder ist dazu ohne weiteres in der Lage. Muss dann noch über jede kleine Ausgabe Buch geführt werden und müssen für alles Belege beigebracht werden, ist selbst ein Normalbürger, der nicht in Hartz IV steckt, schnell überfordert. Und die mittlerweile erhältlichen Formulare enthalten an allen Punkten den Horrorsatz jedes Behördenformulars: „Bitte Nachweise beifügen!“. Heißt: Stundenlang sämtliche Papierstapel zu Hause durchwühlen, herumlaufen, um Bescheinigungen zu bekommen, und in manchen Fällen, wenn man etwa nicht jede einzelne Busfahrkarte des Kindes aufgehoben hat, lässt es sich eben nicht mehr beweisen.

Langzeitarbeitslosigkeit und Hartz IV-Bezug sind nicht selten (aber keineswegs immer!) mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften verknüpft, die das Bearbeiten von Formalitäten besonders erschweren: Selbst der Normalbürger ist kein Buchhalter, aber im Sozialleistungsbereich gibt es eine erhebliche Zahl von Menschen mit so stark eingeschränkter Disziplinbegabung, die es praktisch unmöglich macht, regelmäßige Buchführung zu betreiben. Entsprechende Tätigkeiten können nur bei einem konkreten Anlass und akutem Druck ausgeführt werden. Auch die wohl als willkürliche Schikane gedachte, exzessive Heimbürokratie im Zusammenhang mit Hartz IV-Bezug kann dann nur im letzten Moment und unter existenzieller Bedrohung erledigt werden.

Und nun soll es für Kinder der Betroffenen Beträge von rund 10 Euro im Monat geben. Einiges an Geld für Hartz IV-Empfänger, aber es macht den Kuchen nicht fett. Nun sollen sich also die Betreffenden quälen, alles Mögliche anleiern und Heimbürokratie auch ohne konkreten Zwang erledigen, für 10 Euro im Monat. Außerdem müssen sie ja erst einmal losgehen und Sportvereine heraussuchen, ihre Kinder anmelden und dergleichen – etwas, was sie seit Jahren oft nicht gemacht haben und wofür sie, krass ausgedrückt, erst mal eine neue Art von Leben anfangen müssen.

Ja, es geht hier um jene Art von Hartz IV-Empfängern, die ganz dem Klischee entsprechen: den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen, Thrash-TV schauen und sich und ihre Kinder (die nicht selten durch häufiges Vergessen der Pille entstanden) mit Junkfood fett futtern; die Suche nach Arbeit ist längst aufgegeben und wird nur noch pro forma erledigt, um nicht Hartz IV-Streichungen anheim zu fallen. Um jene Menschen, die arrogante und menschenfeindliche Manager bisweilen als „Wohlstandsmüll“ bezeichnen und die „Neoliberale“ und zahlreiche selbsternannte Sklaventreiber am liebsten zu den niedersten Arbeiten prügeln würden. Wie gesagt, beileibe nicht alle Hartz IV-Empfänger gehören zu dieser Gruppe, aber sie ist bedeutsam.

Aber was bringt sie zu solchem Verhalten? Der nahe liegende Begriff „Faulheit“ suggeriert eine Wahlfreiheit, dieses Verhalten aus eigener Kraft ändern zu können, die diese Menschen nicht haben. Denn die Fähigkeit, sich zu unangenehmen Aufgaben bewegen zu können, sowie der innere Widerstand dagegen, sind bei Menschen von Natur aus unterschiedlich ausgeprägt und können nicht durch Willensentscheidungen oder kurzfristiges Lernen geändert werden. Ob beispielsweise ein Hartz IV-Empfänger einen Antrag für das Bildungspaket ernsthaft ausfüllt (mitsamt all den komplizierten Nachweisen), hängt von verschiedenen Faktoren ab.

Das ist zum einen das Kosten-Nutzen-Verhältnis – was springt für den Aufwand heraus? Das Ergebnis, rund 10 Euro im Monat, ist für alle gleich. Aber die Kosten, und die Möglichkeit, sie überhaupt aufzubringen, sind unterschiedlich: Jemand, dem Heimbürokratie keine große Last ist, der sich nur einen Ruck geben muss, um auch komplizierten Papierkram zu erledigen, der noch dazu alle Belege sauber abgeheftet in Ordnern stehen hat, der hat einen objektiven Profit daraus. Doch wer sich erst fürchterlich quälen muss, wer nach jeden Beleg stundenlang suchen oder tagelang hinterher laufen muss, für den ist der Aufwand und die Selbstüberwindung derart horrend, dass er wahrscheinlich lieber auf das Geld verzichtet, auch, wenn er es eigentlich dringend für seine Kinder braucht.

Und noch einfacher ist die Frage, ob jemand diesen Aufwand überhaupt aufbringen kann, wenn nicht eine existenzielle Drohung, wie die komplette Streichung des Hartz IV, damit zusammen hängt, unter Umständen sogar nicht mal dann. Die Frage, ob man ein Geschäft eingehen würde, bei dem man eine Million Euro investiert und 2 Millionen heraus kriegt, wird für die meisten daran scheitern, dass sie keine Million zum Investieren haben. Genau so ist es mit der Energie für die Erledigung einer unangenehmen Aufgabe: Ist der Aufwand zu hoch und die Aufgabe von horrendem Charakter, wie etwa eine komplexe Formalität für einen disziplinschwachen Menschen, so kann der Aufwand nicht erbracht werden, auch, wenn der Ertrag noch so hoch ist.

Nun kann man zwar mit Zwang und existenziellen Drohungen Leistungen in einem gewissen Maße aus den Menschen heraus pressen. Dies ist aber einerseits ein Angriff auf deren Menschenwürde, zum anderen wird damit genau nicht das erreicht, was diesen Menschen fehlt, nämlich selbstbestimmtes Handeln, auch dann, wenn es unangenehme Dinge zu überwinden gilt, weil man höhere Ziele erreichen will. Ihnen ist es nur möglich, immer den einfachsten Weg zu gehen, was entweder zu einem thrashigen Lebensstil führt, oder dazu, dass sie unter schlimmster Quälerei gerade das Minimum an Leistung erbringen, das sie erbringen müssen. Diese Menschen KÖNNEN unangenehme Arbeiten nicht aus freiem Antrieb erledigen – einen entsprechenden freien Willen haben sie nicht! Die Frage, ob sie eine Sache tun können, hängt einzig daran, ob sie ihnen angenehm oder unangenehm ist, bzw. überhaupt erst in den Sinn kommt.

Dem Konzept „Fördern und fordern“ liegt eine primitive Sklaventreiber-Ideologie zu Grunde, dass Menschen, die aus eigenem Antrieb nichts leisten können, dazu gezwungen werden sollen, und auch die Idee, dass häufiger Zwang zu unangenehmen Arbeiten und Pflichten zu einer Gewöhnung und letztlich selbständigen Erledigung aus eigenem Antrieb führen könne. Ersteres ist aber nur ein Angriff auf die Menschenwürde, denn die so erpressten Leistungen sind minimal im Vergleich zu dem, was Menschen mit echter Disziplinbegabung, zusammen mit vielen anderen Begabungen, leisten können. Und eine Verbesserung der Verhaltensoptionen dieser Menschen findet auch nicht statt; im Gegenteil: durch den Zwang und die Drohungen werden die Pflichten immer mehr zum Horror und können nur unter immer stärkeren Drohungen erledigt werden.

Daher sollte man auch keineswegs auf die Idee kommen, die Anträge auf das Bildungspaket zur Pflicht für Eltern in Hartz IV-Bezug zu machen!

Wenn die Einforderung von Arbeiten und Pflichten zur reinen Schikane verkommt, entwickelt man natürlicher Weise und zu Recht eine Trotzhaltung. Das fängt mit der Beschränkung der Öffnungszeiten von Ämtern und Argen auf die frühen Morgenstunden an. Es gibt keine objektive Notwendigkeit und keinen Sinn für Langzeitarbeitslose, früh aufzustehen; sobald der Amtstermin erledigt ist, schlafen sie eh wieder so lange, wie es ihnen gefällt, und wenn sie tatsächlich mal eine Arbeit erlangen sollten, ist das ein ganz anderer Fall. Es setzt sich fort mit den unzähligen, aus bewusster Schikane umfangreich gehaltenen Hürden der Heimbürokratie, und endet in so genannten „Workfare“-Konzepten, Zwangsarbeit, die, anders als die gängige Bürgerarbeit, vor allem unangenehm und sinnlos und damit reine Schikane sein soll, um die Menschen vom Bezug von Sozialleistungen abzuschrecken oder sie wenigstens dafür zu bestrafen. Ein selbstbestimmtes Leben, das es Menschen ermöglicht, mit unangenehmen Aufgaben wirklich fertig zu werden, kann auf diese Weise nicht erreicht werden.

Wirklich disziplinierte Menschen erledigen unangenehme Aufgaben nicht unter Zwang und Drohungen, auch nicht dadurch, dass sie sich selbst dazu quälen, sondern können entweder alle Aversionen abstellen, um wie Roboter zu arbeiten, oder können sich sogar positiv motivieren („damit es meiner Familie gut geht, mache ich gerne diese Arbeiten“). Ob solche Haltungen und Verhaltensweisen für jeden erlernbar sind, ist höchst fraglich. Wahrscheinlich ist eine extreme und unüberwindbare innere Hemmung gegen unangenehme Pflichten erblich oder in früher Kindheit entstanden – mehr dazu bald in diesem Blog – und kann nur sehr schwer oder gar nicht beseitigt werden. Schon gar nicht durch den reinen Willen der Betroffenen – denn eine unangenehme Pflicht kann normaler Weise niemand wirklich wollen. Ist dann noch die Pflichteinforderung nur für Selbstverständlichkeiten, wie Nahrung, Kleidung oder Unterkunft, oder gar reine Schikane ohne jeden weiteren Zweck, dann wird die Überwindung der Aversionen noch unmöglicher.

Ich halte es für falsch, in derartigen Handlungshemmungen eine reine Bequemlichkeit zu sehen. Denn die Unfähigkeit, sich zu unangenehmen Dingen zu überwinden, sie auch aus eigenem Antrieb und regelmäßig zu tun, auch, wenn einem gerade keiner sinngemäß die Pistole an den Kopf hält, hindert Betroffene an der Erreichung wesentlicher Lebensziele und auch positiver Erträge. Es ist eben gerade keine Selbstbestimmung, wenn man gerade immer nur den einfachsten Weg gehen kann, sondern effektiv eine Behinderung. Das heißt, es sollten einerseits wirksame Therapien entwickelt werden, sofern dies möglich ist. Wobei von vorne herein klar ist, dass diese relativ lang, schwierig und komplex werden können. Zum anderen sollte es auch als solche akzeptiert und nicht als schuldhaftes Fehlverhalten dargestellt werden, und es soll auf das Auferlegen nicht unbedingt notwendiger Arbeiten und Pflichten für die betroffenen Menschen verzichtet werden.

Unsere Gesellschaft hat es nicht nötig, aus einer Minderheit von Menschen eine minimale Arbeitsleistung heraus zu prügeln, während andere mit viel weniger innerer Überwindung viel mehr leisten können, so dass sie ohne große Last auch die nicht leistungsfähigen mit ernähren können. Die Ursklaverei, der Zwang, nur für sein bloßes Dasein arbeiten und Leistung erbringen zu müssen, sollte in einem reichen, hoch technisierten und zivilisierten Land ohnehin längst Vergangenheit sein! Und ein übermäßiger „innerer Schweinehund“ ist eine Behinderung, genau so wie eine Behinderung körperlicher Natur, und nichts, was man mal eben so abstellen kann, wenn man nur will. Die Stammtischparolen, dass Betroffene „einfach zur Bundeswehr hätten gehen sollen“ oder sich „nur zusammen nehmen müssen“, sind gefährlicher Unsinn, der den Betroffenen schlimmes Leid verursacht. Mit gutem Grund wird derartiges etwa von Suchtkranken seit langem nicht mehr behauptet. Und es gilt zu verhindern, dass mit diesem oftmals böswilligen Aberglauben und nicht selten mit reinem Sadismus Politik gemacht wird!

Das Hartz IV-Bildungspaket war vielleicht gut gemeint, aber es wird wahrscheinlich scheitern, weil die Hürden für viele in der Zielgruppe zu hoch sind. Hartz IV-Empfänger sind eben meistens keine verkappten Buchhalter. Dennoch bleibt zu hoffen, dass die Ämter wenigstens in den letzten Apriltagen in einer Flut von Anträgen ersticken!
Gotti (Gast) - 18. Apr, 09:18

Nicht überzeugt...

Hallo,

dass viele Anträge unnötig kompliziert sind und oft überflüssige Formalitäten gepflegt werden ist auch mein Eindruck.
Die These aber, dass ein Mensch, der nicht Willens ist, auch nur die kleinste Unannehmlichkeit auf sich zu nehmen, solange kein extremer Druck herrscht, quasi als behindert anzusehen ist, kann ich absolut nicht nachvollziehen.
Motivation speist sich aus Erfolg. Erfolg kann es jedoch nur dann geben, wenn ein Ziel erreicht werden soll. Auch der (nach BBirke) "motivationsbehinderte" Mensch hat Wünsche, für deren Verwirklichung er sich voll ins Zeug legt. Sei es das finden eines Partners, besorgen des bevorzugten Hundefutters o. ä.
Ich kenne keinen "faulen" Menschen, der nicht auch einige Bereiche hat, in denen er förmlich aufblüht, wenn es um das Erreichen bestimmter Ziele geht.
Der Mechanismus ist in jedem Menschen vorhanden und kann aktiviert werden. Dazu muss der Mensch jedoch auch die Chance auf Erfolg erhalten! Der Ansatz kann also nicht sein, alles Unangenehme als "Schikane" zu brandmarken und dem motivationsgehemmten Individuum so weit als möglich entgegenzukommen. Statt dessen sollte einfach eine Belohnung für das überwinden des Hindernisses erfolgen. So könnte, nur mal als Beispiel, frühes Erscheinen in der ArGe durch besonders schnelle Bedienung, Hilfe beim Befüllen eines Antrages oder ähnliches belohnt werden. Vielleicht hilft an der Stelle auch ein Lob oder ähnliches, hier müssten Psychologen oder andere Experten eingeschaltet werden.
Auf jeden Fall ist das Postulat einer "Behinderung" in Fällen besonderer Willensschwäche kontraproduktiv, weil es den Betroffenen einerseits eine Rechtfertigung für Ihr Verhalten liefert ("ich bin nicht faul, ich bin krank!") und andererseits jeden Anreiz eliminiert, doch einmal für irgendetwas selbst aktiv zu werden (mit evtl. folgendem Erfolgserlebnis).

MfG Gotti

bbirke - 18. Apr, 21:50

Hallo auch,


ich denke, Erfolg kann sicher zu Motivation beitragen, wenn er denn da ist. Aber es gibt dann eben auch gewisse Durststrecken, die unter Umständen zu lang sind (gut, nicht beim Kauf von Hundefutter...). Aber ob jemand, der dabei Probleme hat, es schafft, um eines bestimmten Erfolgs willen regelmäßig früh aufzustehen oder lästige Formalitäten zu erledigen, wenn der Erfolg noch in weiter Ferne ist, will ich doch bezweifeln. Und mit Eintreten des Erfolgs lässt dann die Energie sowieso nach. Wie ich geschrieben habe, kann auch bei einem hohen Ertrag/Erfolg einer unangenehmen Handlung die benötigte Aktivierungsenergie dafür zu hoch sein.

Außerdem kann man in der Regel eine unangenehme Pflicht nie wirklich wollen. Man will nur den Erfolg und nicht die Pflicht und kämpft daher mit sich selbst, genauso, wie wenn man von außen mit Drohungen zu einer unangenehmen Arbeit genötigt wird. Der Begriff "Wille" oder "Willensschwäche" ist zwiespältig, denn man "will" die unangenehme Pflicht nicht wirklich, sondern beugt sich nur dem äußeren Zwang oder verbiegt sich, um einen Vorteil zu erlangen (letzteres ist bei wirklich disziplingestörten Menschen kaum möglich).

Und der kritische Punkt bei den Langzeitarbeitslosen ist, dass es da ja gar keinen Erfolg gibt, sondern dass die Pflichten für Selbstverständlichkeiten (Nahrung, Kleidung, Unterkunft) gefordert werden oder wirklich Schikane sind, also gar keinem anderen Zweck dienen, als den Betroffenen das Leben zu versauern. Was bitte macht es für einen Sinn, Leute bei einer Arge nach 10 Uhr vor verschlossenen Türen stehen zu lassen? Was hat ein Arbeitsloser davon, dass er, statt erst um Mittag, schon morgens um 8 Uhr herum sitzt? Noch nicht einmal die Argen oder der Staat haben was davon. Es geht nur darum, Arbeitslosen das lange Schlafen zu missgönnen und sie zum Simulieren eines bürgerlich-"fleißigen" Lebensstils zu zwingen. Und dies ist eine eher kleine Schikane, verglichen mit willkürlicher und erniedrigender Behandlung, völlig überzogenen Bürokratie-Forderungen oder "Workfare"-Zwangsarbeit. Und "Tagesstruktur" wird damit auch nicht über die betreffenden Stunden hinaus geschaffen - abgesehen davon, dass ein Arbeitsloser sie nicht wirklich braucht. Ich denke mal, so kleine Belohnungen wie die genannten werden jemanden, dem das Frühaufstehen wirklich schwer fällt, auch nicht dazu bewegen.

Der letzte Abschnitt deutet die zentrale Problematik an: man WILL disziplinunbegabten, "faulen" Menschen eine Schuld für ihr Verhalten geben, ihnen unterstellen, dass sie anders könnten, gegebenenfalls auch wider besseres Wissen. Dabei empfinden viele dieser Menschen ihr Verhaltenshandicap durchaus als Belastung, man lese mal Foren zu Prokrastination, Messietum, ADHS und dergleichen (alles Formen von Disziplinstörungen)! Es gibt in der Tat an dem Verhalten nichts zu rechtfertigen, weil es determiniert, durch nicht willentlich beeinflussbare Persönlichkeitseigenschaften und Strukturen fest gelegt ist (ja, sie sind krank, nicht aus freiem Willen "faul"!). Es würde allerdings den Betroffenen den ständigen Druck, Anschuldigungen, gesellschaftliche Ächtung und mitunter existenzielle Bedrohung nehmen. Echte Anreize für Fleiß (nicht Druck oder existenzielle Bedrohungen, wie ALG-Streichung) sind ohnehin eher selten, und selbst, wenn es mehr gäbe, würden sie kaum reichen, Disziplinstörungen wenigstens gelegentlich zu überwinden.

Erst, wenn Menschen sich nur mit einem kleinen Ruck oder einer positiven Selbstmotivation zu unangenehmen Pflichten bringen können und sich nicht quälen müssen, kann man von einem halbwegs freien Willen in dieser Sache sprechen. Eine solche Umprogrammierung ist aber bislang kaum möglich, auch, wenn manchmal Medikamente wie z.B. Methylphenidat ("Ritalin" u.a.) helfen können. Letzteres darf natürlich kein Vorwand für eine Zwangstherapie oder -medikation sein!
Gotti (Gast) - 20. Apr, 09:02

In Ordnung, da ich bei dem Thema nur auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen argumentieren kann, akzeptiere ich die Möglichkeit einer Disziplinstörung einfach mal. Dennoch kann ich mir so etwas nur für für kleine Teile der Betroffenen vorstellen (also eine klinische Disziplinstörung).

Denn es gilt immer:
Wenn ich einen Vorteil (großen oder kleinen ist egal, Hauptsache er ist gewünscht) anstrebe und zu diesem Zweck eine unangenehme Pflicht erledigen muss, so korreliert doch das Erfolgsgefühl direkt mit der Schwierigkeit/Unannehmlichkeit der Aufgabe/Pflicht, die ich zu erledigen hatte!

Bei Menschen, die sich nie im Überwinden von Hindernissen üben konnten (oder mussten), besteht hier natürlich Lernbedarf (d.h. die Aufgaben müssen am Anfang sehr überschaubar, der Erfolg sichtbar und die Belohnung fühlbar sein).
Ich bin (allerdings nur aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen) überzeugt, dass die meisten Menschen "lernen" können, Hindernisse ganz normal zu überwinden.

Genau wie sie auch lernen können, dass nichts tun nichts macht! Ich kenne einige Leute, die in der Arbeitslosigkeit "versackt" sind. Die einfach festgestellt haben (und das im Gespräch auch ganz klar so benennen), dass ihnen das Leben im ALG II Bezug mehr zusagt, als das Erwerbsleben! Denn, wie Sie schon ganz richtig festgestellt haben, welcher Mensch erledigt schon gerne unangenehme Pflichten? Keiner! Auch für den "Normalbürger" muss ein gewisser Vorteil herausspringen, damit er aktiv wird.
Wenn mir jedoch ein niedriger Standard im Leben genügt (eigene Wohnung mit TV und Internet, genug zu essen, Heizung, ein Fahrrad und Aktivitäten mit den Freunden im Kiez) ist Harz IV die beste Möglichkeit dazu! Ich kann mir den Tag frei einteilen, zumindestens in Großstädten gibt es viele Möglichkeiten was zu unternehmen (soziale Angebote von Kirchen oder Vereinen) und die einzigen Verpflichtungen die bleiben sind die "Schikanen" vom Amt. Die stellen auch zusammen mit der gesellschaftlichen Ächtung die einzigen fühlbaren Nachteile dieses Lebensstils dar.
Schafft man also die "Schikanen"* ab (weil die ja sowieso keinen Sinn machen) und sorgt für gesellschaftliche Anerkennung ("der ist krank, der muss so leben"), dann schafft man ein Lebensmodell, das noch viel attraktiver ist, als das heutige und wird noch größere Teile der Bevölkerung damit "beglücken"!

Ich bin nämlich nach wie vor der Meinung, dass erst ein solches Leben in die ("erlernte") Disziplinstörung führt (für die Mehrheit). Und dann überlege sich der geneigte Mensch bitte einmal, was passieren würde, wenn die BRD durch irgendwelche Einflüsse auf einmal nicht mehr reich wäre! Wenn eine Alimentierung nicht mehr möglich ist. Was ist dann? Werden die Leute alle zu Grunde gehen? Ich glaube nicht! Ich glaube der Großteil wird *plötzlich* aktiv werden! Spontane Heilung gewissermaßen...
Ich meine man muss sich ja auch mal überlegen, wie die Leute sich verhalten, die eben gerade nicht in Überflussgesellschaften leben. Dort gibt es sicher auch Menschen, die nicht in der Lage sind, sich zu diziplinieren. Aber die werden bei weitem nicht den Anteil stellen, den wir hier haben, einfach weil die Folgen solchen Verhaltens dort gravierend wären!

MfG Gotti

*Und das man die Menschen "zwingt" zu ungewohnten Zeiten und festen Terminen auf dem Amt zu erscheinen halte ich nicht für Schikane. Schließlich ist es ja offiziell Ziel, die Menschen in ein sozialversichungspflichtiges Arbeitsverhältnis zu überführen. Und in der Welt der Mehrheit ist es Usus, dass man zu Terminen erscheint, die man nicht immer selbst festlegen kann, dass man pünktlich ist usw. Da kann das Amt meiner Meinung nach gar nicht anders (alles andere hieße ja, zuzugeben, dass man diese Leute nie in Arbeit bringen wird und sie eigentlich nur noch verwaltet)!

Was ist eigentlich, wenn solche Menschen Kinder haben? Die müssen morgens geweckt, versorgt, zur Schule geschickt oder gebracht werden!
bbirke - 20. Apr, 23:53

@Gotti:

Es gibt vielleicht einige Menschen, die in der Tat Talent zur Disziplin haben, diese aber nie gelernt haben. Das wären dann vielleicht solche, die in langjährigen Hartz/Sozialhilfe/Fürsorge-Familien aufgewachsen sind und sich "nur" dran gewöhnen müssten. Das dürfte aber eine kleine Minderheit sein, weil ja spätestens mit der Schule ein Mindestmaß an Disziplin vermittelt wird. Irgendwann werden sie merken, dass sie ohne Disziplin schwere Nachteile haben, auch ganz ohne irgendwelche Schikanen oder Arbeitszwänge.

Dass Nichtstun nichts tut und ein bescheidener Lebensstil auch ohne Arbeit und Pflichterfüllung möglich sein sollte, ist eigentlich selbstverständlich. Ich wehre mich gegen die Gängelungssucht, dass jeder unbedingt irgendwelche unangenehmen Pflichten erfüllen muss, und sei es, dass man ihm nur künstlich irgendwelche völlig nutzlosen Pflichten auferlegt, um ihm das bequeme Leben zu versauern (Schikane). Es geht nicht darum, so ein Lebensmodell attraktiv oder unattraktiv zu machen, sondern darum, dass man ein Recht darauf hat, wenn man denn will. Es gilt, die Ursklaverei abzuschaffen, den Zwang, nur für sein bloßes Dasein unangenehme Pflichten erfüllen zu müssen. Dann könnte man ja auch Gehbehinderte ächten (sonst würde ja noch das Rumsitzen und Rollstuhlfahren attraktiv)!

Dass jemand sich unter existenzieller Bedrohung irgendwie zu seinen Pflichten quält, sei es infolge Staatspleite oder Willkür, hat mit "Heilung" nichts zu tun, sondern ist nur eine extreme Quälerei, um das Allerschlimmste zu verhindern - und logischer Weise werden die Leute dann kein bischen mehr tun, als sie unbedingt müssen. Und Leute ohne Disziplin gab es auch schon in Vor-Sozialleistungszeiten oder gibt es in der "3.Welt"; die müssen halt betteln, aus Mülltonnen fressen oder kriminell werden.

Mein Ideal sind letztlich keine Transfersysteme, sondern ein automatisches Versorgungssystem, wo alle Bedarfsgüter aus vollautomatischen Fabriken kommen oder auf Bäumen wachsen.

Und: Wenn ich früh morgens zur Arbeit komme, dann gibt es in der Regel vernünftige Gründe dafür. Wenn aber die offiziellen Sprechzeiten bei Argen nur frühmorgens sind (Termine sind nochmal eine andere Sache), dann ist da kein Sinn hinter, außer, dass man den Leuten das Ausschlafen verderben will - also Schikane. Dass ich, weil ich arbeite, früh raus muss, ist das noch lange kein vernünftiger Grund, dass ich andere, die keinen vernünftigen Grund dafür haben, nur deswegen sinnlos rumscheuche, damit sie diesen Vorteil nicht haben können!

Bei der Sache mit den Kindern gebe ich Recht, das ist in der Tat ein Problem, weil man da ja massig unangenehme Pflichten hat, die wirklich notwendig sind. Bei Kindern helfen auch keine Sanktionen, jedenfalls, so lange keine extreme Verwahrlosung herrscht, und die betreffenden Eltern sind leicht heillos überfordert. Und weil man die Leute schlecht daran hindern kann, es zu treiben, bin ich für kostenlose Verhütungsmittel für Sozialleistungsempfänger, am besten Langzeit-Hormonimplantate (die Pille wird zu leicht mal vergessen, besonders bei Menschen ohne Disziplinbegabung). Das wäre übrigens rein aus Kostensicht extrem rentabel, müssen doch nicht noch Kinder mit Hartz IV bezahlt werden!

Gotti (Gast) - 22. Apr, 17:50

Hallo,

wenn alle Güter aus automatisierten Fabriken kommen (oder auf Bäumen wachsen), wäre gegen diesen Lebensstil nichts einzuwenden. Solange mir aber Anteile von meinem erwirtschafteten Einkommen abgenommen werden, bin ich da nicht mit einverstanden! Die Versorgung dieser Menschen wird augenblicklich aus Steuermitteln finanziert. Wenn ich sehe, dass die wirklich Wohlhabenden (natürliche und juristische Personen) kaum zum Steueraufkommen beitragen, sondern die stärkste Steuerbelastung auf den mittleren Einkommen liegt (wozu auch meins gehört), dann bitte ich doch sehr um eine Verwendung derselben für Zwecke, bei denen ich mir nicht ausgenutzt vorkomme!
Diese Transferleistungen sind zur Sicherung eines menschenwürdigen Lebensstandards gedacht, wenn ein Mitglied unserer Gesellschaft unverschuldet in Not gerät. Und wenn jemand krank ist (nur anerkannte Krankheiten), oder gerade seinen Job verloren hat oder zu alt ist, Flüchtling, was auch immer, so soll diesem Menschen eine Grundversorgung zustehen! Auch der faule (oder diziplinunfähige) Mensch soll die Versorgung erhalten (aber nicht weil er keinen Bock hat, sondern weil eine Überprüfung im Einzelfall viel zu aufwändig wäre und ich Sorge hätte, dass auch einem Menschen der eben nicht faul im klassischen Sinne, sondern wirklich krank ist oder Pech hatte dann im Zweifelsfall die Hilfe verweigert werden könnte).

Aber: Wenn es Leistungen gibt, erwachsen daraus auch immer Pflichten! Jeder Arbeitnehmer muss für die Mittel die er erhält, gewisse Pflichten erfüllen. Warum sollte dieses Prinzip für eine Gruppe ausgesetzt werden, nur weil es dieser schlicht zu unangenehm ist?
Denn Faulheit ist nicht das Privileg von Transferleistungsempfängern! Auch ich würde gerne weniger arbeiten, wenn ich es mir leisten könnte. Wer möchte sich anmaßen, die Faulheit irgendeines Menschen über z.B. meine Faulheit zu stellen? Sollte sich z. B. herausstellen, dass der überwiegende Teil der Langzeitarbeitslosen tatsächlich einfach nicht will (bzw. sich nicht aufraffen kann), dann wäre ich mit Sicherheit unter der Gruppe, die die ersatzlose Streichung sämtlicher Transferleistungen an diese Gruppe fordert. Das natürlich verbunden mit der Auflage, die eingesparten Mittel nicht mehr von den werktätigen Menschen einzutreiben.
Ich weiß nicht wie viel Geld ich dann extra verbuchen könnte, vielleicht würde es ja für 2-3 Stunden weniger Arbeit in der Woche reichen. Und die Disziplinunfähigen müssten sich dann wohl oder übel zu irgendwas aufraffen (und ich sage: sie würden es tun!).
Seitdem ich Geld verdiene hab ich mich nie über die Abgaben geärgert (im Gegensatz zu vielen Bekannten), weil ich immer gesagt habe, dass mit diesen Mitteln viele sinnvolle und notwendige Aufgaben erledigt werden (nicht nur die Sicherung eines anständigen Lebensstandards, sondern auch Sachen wie Schulbildung, Bafög usw.).

Lange Rede kurzer Sinn, ich bin kein Anhänger der Fraktion, die den "mündigen" und "eigenverantwortlichen" Bürger als einzig wahres Lebensmodell sieht (und damit meint das man alle, die nicht genug Kohle haben, gnadenlos verrecken lässt). Aber alles hat seine Grenzen. Und wenn gefordert wird, dass Leute von Ihren Pflichten (die zumindestens zum Teil sinnvoll sind, über offensichtlich unnötiges kann man immer reden) entbunden werden, nur weil sie diese als unangenehm (zu unangenehm trifft wohl nur auf einen sehr kleinen Teil zu, weil sich die meisten ja doch motivieren können) empfinden, dann ist diese Grenze definitiv erreicht!
Auch die Definition der Faulheit als Krankheit stößt bei mir auf Unverständnis. Es scheint Mode zu sein, immer mehr Verhaltensweisen, die zur normalen Bandbreite gehören, aber nicht in der Mitte der Glockenkurve liegen, als Krankheiten zu definieren (Siehe ADHS oder Burnout). Wenn das so weitergeht, leben 2100 nur noch 14 Menschen in Deutschland, die als "gesund" gelten und deshalb keine Extrawurst für sich beanspruchen können (aber Vorsicht: wenn alle "krank" sind, ist es keiner mehr)!

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