Sonntag, 17. April 2011

Warum das Hartz IV-Bildungspaket scheitern muss

Der Spiegel Online berichtet (http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,757284,00.html), dass das von Ministerin von der Leyen propagierte Hartz IV-Bildungspaket floppt, weil nur ein kleiner Teil der Berechtigten Anträge gestellt hat – und die angeblich auch noch oft von „bescheidener“ Qualität sind. Und am 30.April läuft die Antragsfrist für rückwirkende Zahlungen ab.

Da sind zum einen anhaltende Streitigkeiten von Politik und Ämtern, sowie verbleibende Unklarheiten. Zum anderen hatten Behörden keine Antragsformulare vorrätig, verweigerten aber, rechtswidrig, die Annahme formloser Anträge. Es gab offensichtliche Versuche, Antragsteller abzuwimmeln oder auszutricksen, indem man sie entweder zwischen verschiedenen Behörden hin- und herschickte, die Anträge nicht annahm oder später einfach behauptete, es seinen keine gültigen Anträge eingegangen.

Doch über all diese Dinge hinaus gibt es wesentliche Gründe, warum überhaupt so wenige Anträge abgegeben werden. Gegenüber dem Spiegel wurde die Problematik so angedeutet, dass „vor allem die Eltern Geld beantragten, die sich auch früher schon viel um ihre Kinder gekümmert hätten“, und dann: "Die wirklich Abgehängten erreichen wir immer noch nicht.". Denn so ein Antrag ist immer eine relativ komplexe Formalität. Man muss sich erst mal informieren, was es überhaupt im Einzelnen gibt, wie es beantragt wird und am Ende, was man alles beibringen muss, um überhaupt den Antrag bewilligt zu bekommen. Das lange Fehlen offizieller Anträge stellt somit schon mal eine Hemmschwelle dar, denn nicht jeder traut sich, so einen Antrag selbst zu formulieren, oder ist dazu ohne weiteres in der Lage. Muss dann noch über jede kleine Ausgabe Buch geführt werden und müssen für alles Belege beigebracht werden, ist selbst ein Normalbürger, der nicht in Hartz IV steckt, schnell überfordert. Und die mittlerweile erhältlichen Formulare enthalten an allen Punkten den Horrorsatz jedes Behördenformulars: „Bitte Nachweise beifügen!“. Heißt: Stundenlang sämtliche Papierstapel zu Hause durchwühlen, herumlaufen, um Bescheinigungen zu bekommen, und in manchen Fällen, wenn man etwa nicht jede einzelne Busfahrkarte des Kindes aufgehoben hat, lässt es sich eben nicht mehr beweisen.

Langzeitarbeitslosigkeit und Hartz IV-Bezug sind nicht selten (aber keineswegs immer!) mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften verknüpft, die das Bearbeiten von Formalitäten besonders erschweren: Selbst der Normalbürger ist kein Buchhalter, aber im Sozialleistungsbereich gibt es eine erhebliche Zahl von Menschen mit so stark eingeschränkter Disziplinbegabung, die es praktisch unmöglich macht, regelmäßige Buchführung zu betreiben. Entsprechende Tätigkeiten können nur bei einem konkreten Anlass und akutem Druck ausgeführt werden. Auch die wohl als willkürliche Schikane gedachte, exzessive Heimbürokratie im Zusammenhang mit Hartz IV-Bezug kann dann nur im letzten Moment und unter existenzieller Bedrohung erledigt werden.

Und nun soll es für Kinder der Betroffenen Beträge von rund 10 Euro im Monat geben. Einiges an Geld für Hartz IV-Empfänger, aber es macht den Kuchen nicht fett. Nun sollen sich also die Betreffenden quälen, alles Mögliche anleiern und Heimbürokratie auch ohne konkreten Zwang erledigen, für 10 Euro im Monat. Außerdem müssen sie ja erst einmal losgehen und Sportvereine heraussuchen, ihre Kinder anmelden und dergleichen – etwas, was sie seit Jahren oft nicht gemacht haben und wofür sie, krass ausgedrückt, erst mal eine neue Art von Leben anfangen müssen.

Ja, es geht hier um jene Art von Hartz IV-Empfängern, die ganz dem Klischee entsprechen: den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen, Thrash-TV schauen und sich und ihre Kinder (die nicht selten durch häufiges Vergessen der Pille entstanden) mit Junkfood fett futtern; die Suche nach Arbeit ist längst aufgegeben und wird nur noch pro forma erledigt, um nicht Hartz IV-Streichungen anheim zu fallen. Um jene Menschen, die arrogante und menschenfeindliche Manager bisweilen als „Wohlstandsmüll“ bezeichnen und die „Neoliberale“ und zahlreiche selbsternannte Sklaventreiber am liebsten zu den niedersten Arbeiten prügeln würden. Wie gesagt, beileibe nicht alle Hartz IV-Empfänger gehören zu dieser Gruppe, aber sie ist bedeutsam.

Aber was bringt sie zu solchem Verhalten? Der nahe liegende Begriff „Faulheit“ suggeriert eine Wahlfreiheit, dieses Verhalten aus eigener Kraft ändern zu können, die diese Menschen nicht haben. Denn die Fähigkeit, sich zu unangenehmen Aufgaben bewegen zu können, sowie der innere Widerstand dagegen, sind bei Menschen von Natur aus unterschiedlich ausgeprägt und können nicht durch Willensentscheidungen oder kurzfristiges Lernen geändert werden. Ob beispielsweise ein Hartz IV-Empfänger einen Antrag für das Bildungspaket ernsthaft ausfüllt (mitsamt all den komplizierten Nachweisen), hängt von verschiedenen Faktoren ab.

Das ist zum einen das Kosten-Nutzen-Verhältnis – was springt für den Aufwand heraus? Das Ergebnis, rund 10 Euro im Monat, ist für alle gleich. Aber die Kosten, und die Möglichkeit, sie überhaupt aufzubringen, sind unterschiedlich: Jemand, dem Heimbürokratie keine große Last ist, der sich nur einen Ruck geben muss, um auch komplizierten Papierkram zu erledigen, der noch dazu alle Belege sauber abgeheftet in Ordnern stehen hat, der hat einen objektiven Profit daraus. Doch wer sich erst fürchterlich quälen muss, wer nach jeden Beleg stundenlang suchen oder tagelang hinterher laufen muss, für den ist der Aufwand und die Selbstüberwindung derart horrend, dass er wahrscheinlich lieber auf das Geld verzichtet, auch, wenn er es eigentlich dringend für seine Kinder braucht.

Und noch einfacher ist die Frage, ob jemand diesen Aufwand überhaupt aufbringen kann, wenn nicht eine existenzielle Drohung, wie die komplette Streichung des Hartz IV, damit zusammen hängt, unter Umständen sogar nicht mal dann. Die Frage, ob man ein Geschäft eingehen würde, bei dem man eine Million Euro investiert und 2 Millionen heraus kriegt, wird für die meisten daran scheitern, dass sie keine Million zum Investieren haben. Genau so ist es mit der Energie für die Erledigung einer unangenehmen Aufgabe: Ist der Aufwand zu hoch und die Aufgabe von horrendem Charakter, wie etwa eine komplexe Formalität für einen disziplinschwachen Menschen, so kann der Aufwand nicht erbracht werden, auch, wenn der Ertrag noch so hoch ist.

Nun kann man zwar mit Zwang und existenziellen Drohungen Leistungen in einem gewissen Maße aus den Menschen heraus pressen. Dies ist aber einerseits ein Angriff auf deren Menschenwürde, zum anderen wird damit genau nicht das erreicht, was diesen Menschen fehlt, nämlich selbstbestimmtes Handeln, auch dann, wenn es unangenehme Dinge zu überwinden gilt, weil man höhere Ziele erreichen will. Ihnen ist es nur möglich, immer den einfachsten Weg zu gehen, was entweder zu einem thrashigen Lebensstil führt, oder dazu, dass sie unter schlimmster Quälerei gerade das Minimum an Leistung erbringen, das sie erbringen müssen. Diese Menschen KÖNNEN unangenehme Arbeiten nicht aus freiem Antrieb erledigen – einen entsprechenden freien Willen haben sie nicht! Die Frage, ob sie eine Sache tun können, hängt einzig daran, ob sie ihnen angenehm oder unangenehm ist, bzw. überhaupt erst in den Sinn kommt.

Dem Konzept „Fördern und fordern“ liegt eine primitive Sklaventreiber-Ideologie zu Grunde, dass Menschen, die aus eigenem Antrieb nichts leisten können, dazu gezwungen werden sollen, und auch die Idee, dass häufiger Zwang zu unangenehmen Arbeiten und Pflichten zu einer Gewöhnung und letztlich selbständigen Erledigung aus eigenem Antrieb führen könne. Ersteres ist aber nur ein Angriff auf die Menschenwürde, denn die so erpressten Leistungen sind minimal im Vergleich zu dem, was Menschen mit echter Disziplinbegabung, zusammen mit vielen anderen Begabungen, leisten können. Und eine Verbesserung der Verhaltensoptionen dieser Menschen findet auch nicht statt; im Gegenteil: durch den Zwang und die Drohungen werden die Pflichten immer mehr zum Horror und können nur unter immer stärkeren Drohungen erledigt werden.

Daher sollte man auch keineswegs auf die Idee kommen, die Anträge auf das Bildungspaket zur Pflicht für Eltern in Hartz IV-Bezug zu machen!

Wenn die Einforderung von Arbeiten und Pflichten zur reinen Schikane verkommt, entwickelt man natürlicher Weise und zu Recht eine Trotzhaltung. Das fängt mit der Beschränkung der Öffnungszeiten von Ämtern und Argen auf die frühen Morgenstunden an. Es gibt keine objektive Notwendigkeit und keinen Sinn für Langzeitarbeitslose, früh aufzustehen; sobald der Amtstermin erledigt ist, schlafen sie eh wieder so lange, wie es ihnen gefällt, und wenn sie tatsächlich mal eine Arbeit erlangen sollten, ist das ein ganz anderer Fall. Es setzt sich fort mit den unzähligen, aus bewusster Schikane umfangreich gehaltenen Hürden der Heimbürokratie, und endet in so genannten „Workfare“-Konzepten, Zwangsarbeit, die, anders als die gängige Bürgerarbeit, vor allem unangenehm und sinnlos und damit reine Schikane sein soll, um die Menschen vom Bezug von Sozialleistungen abzuschrecken oder sie wenigstens dafür zu bestrafen. Ein selbstbestimmtes Leben, das es Menschen ermöglicht, mit unangenehmen Aufgaben wirklich fertig zu werden, kann auf diese Weise nicht erreicht werden.

Wirklich disziplinierte Menschen erledigen unangenehme Aufgaben nicht unter Zwang und Drohungen, auch nicht dadurch, dass sie sich selbst dazu quälen, sondern können entweder alle Aversionen abstellen, um wie Roboter zu arbeiten, oder können sich sogar positiv motivieren („damit es meiner Familie gut geht, mache ich gerne diese Arbeiten“). Ob solche Haltungen und Verhaltensweisen für jeden erlernbar sind, ist höchst fraglich. Wahrscheinlich ist eine extreme und unüberwindbare innere Hemmung gegen unangenehme Pflichten erblich oder in früher Kindheit entstanden – mehr dazu bald in diesem Blog – und kann nur sehr schwer oder gar nicht beseitigt werden. Schon gar nicht durch den reinen Willen der Betroffenen – denn eine unangenehme Pflicht kann normaler Weise niemand wirklich wollen. Ist dann noch die Pflichteinforderung nur für Selbstverständlichkeiten, wie Nahrung, Kleidung oder Unterkunft, oder gar reine Schikane ohne jeden weiteren Zweck, dann wird die Überwindung der Aversionen noch unmöglicher.

Ich halte es für falsch, in derartigen Handlungshemmungen eine reine Bequemlichkeit zu sehen. Denn die Unfähigkeit, sich zu unangenehmen Dingen zu überwinden, sie auch aus eigenem Antrieb und regelmäßig zu tun, auch, wenn einem gerade keiner sinngemäß die Pistole an den Kopf hält, hindert Betroffene an der Erreichung wesentlicher Lebensziele und auch positiver Erträge. Es ist eben gerade keine Selbstbestimmung, wenn man gerade immer nur den einfachsten Weg gehen kann, sondern effektiv eine Behinderung. Das heißt, es sollten einerseits wirksame Therapien entwickelt werden, sofern dies möglich ist. Wobei von vorne herein klar ist, dass diese relativ lang, schwierig und komplex werden können. Zum anderen sollte es auch als solche akzeptiert und nicht als schuldhaftes Fehlverhalten dargestellt werden, und es soll auf das Auferlegen nicht unbedingt notwendiger Arbeiten und Pflichten für die betroffenen Menschen verzichtet werden.

Unsere Gesellschaft hat es nicht nötig, aus einer Minderheit von Menschen eine minimale Arbeitsleistung heraus zu prügeln, während andere mit viel weniger innerer Überwindung viel mehr leisten können, so dass sie ohne große Last auch die nicht leistungsfähigen mit ernähren können. Die Ursklaverei, der Zwang, nur für sein bloßes Dasein arbeiten und Leistung erbringen zu müssen, sollte in einem reichen, hoch technisierten und zivilisierten Land ohnehin längst Vergangenheit sein! Und ein übermäßiger „innerer Schweinehund“ ist eine Behinderung, genau so wie eine Behinderung körperlicher Natur, und nichts, was man mal eben so abstellen kann, wenn man nur will. Die Stammtischparolen, dass Betroffene „einfach zur Bundeswehr hätten gehen sollen“ oder sich „nur zusammen nehmen müssen“, sind gefährlicher Unsinn, der den Betroffenen schlimmes Leid verursacht. Mit gutem Grund wird derartiges etwa von Suchtkranken seit langem nicht mehr behauptet. Und es gilt zu verhindern, dass mit diesem oftmals böswilligen Aberglauben und nicht selten mit reinem Sadismus Politik gemacht wird!

Das Hartz IV-Bildungspaket war vielleicht gut gemeint, aber es wird wahrscheinlich scheitern, weil die Hürden für viele in der Zielgruppe zu hoch sind. Hartz IV-Empfänger sind eben meistens keine verkappten Buchhalter. Dennoch bleibt zu hoffen, dass die Ämter wenigstens in den letzten Apriltagen in einer Flut von Anträgen ersticken!

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